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Der verlorene Zwilling

Die Heilung eines frühen Traumas

Erstaunlich viele Menschen sind mit einem lang vergessenen Begleiter in ihr Leben getreten: Sie waren nicht allein im Mutterleib, sind aber alleine geboren worden. Ihr Zwillingsbruder oder –schwester ist frühzeitig gestorben, häufig unbemerkt von der Mutter und ohne bewusste Erinnerung des überlebenden Zwillings, weil das Ereignis meist schon sehr früh passiert ist.

Dennoch vergisst die Seele dieses traumatische Ereignis nicht, sodass die Trennungserfahrung eine tiefe Spur in der Seele des überlebenden Zwillings hinterlässt. Sie spiegelt sich in dramatischen Beziehungsgeschichten, in der vergeblichen Suche nach dem idealen Partner, in unbestimmten Sehnsüchten, in unergründlichen Schuldgefühlen und vielen anderen Symptomen.

Die Schätzungen über Menschen, die von dieser Erfahrung betroffen sind, gehen von 4% (vorsichtige wissenschaftliche Zahlen) bis 40 % (Schätzungen aus der klinischen Erfahrung). Es ist dabei zu berücksichtigen, dass viele Zwillinge sich schon sehr früh verabschieden, etwa in der ersten Woche nach der Empfängnis, eine Zeit, in der nicht einmal die Mutter von ihrer Schwangerschaft weiß und deshalb auch keine Routine-Ultraschalluntersuchungen stattfinden. Auch kann ein Zwilling in einer frühen Ultraschalluntersuchung leicht übersehen werden. Die klinischen Zahlen andererseits müssen mit Vorsicht betrachtet werden, weil Menschen mit einem Zwillingstrauma meist emotional instabil und leicht verletzlich und häufig in Beziehungskonflikten verstrickt sind und deshalb vermehrt therapeutische Hilfe aufsuchen. Allerdings kommt die Therapie oft nicht zum eigentlichen Trauma und damit zur Auflösung der Probleme, wenn der/die TherapeutIn keine Erfahrung bei diesem Thema hat und deshalb auch die Wurzeln der Traumatisierung nicht aufdecken kann. Jedenfalls können wir davon ausgehen, dass von den Menschen, die Psychotherapie in Anspruch nehmen, ein hoher Prozentsatz vom Thema des verlorenen Zwillings betroffen ist.

Auch wenn jeder betroffene Mensch diese Erfahrung anders verarbeitet, gibt es doch wiederkehrende gemeinsame Elemente, die bei der Heilungsarbeit berücksichtigt werden müssen: Das tiefe Gefühl der Verbundenheit am Anfang, die Ängste, wenn der Abschiedsprozess beginnt und die Einsamkeit nach dem Verlust.

Menschen mit dem Thema des verlorenen Zwillings haben starke Erwartungen an Partnerschaften, die aus der tiefen Verbundenheit mit dem Zwilling stammen: Du musst mich in meinem Wesen total verstehen und alles spüren, was ich brauche. Die Enttäuschung ist fast unvermeidlich und wird sehr schmerzhaft erlebt.

Die therapeutische Aufarbeitung des Verlustes des frühen Trennungstraumas kann viel zur positiven Veränderung des eigenen Lebens beitragen und neue Perspektiven im Leben eröffnen. In meine Arbeit mit diesem Thema fließt meine reiche Erfahrung in der Begleitung pränataler Traumatisierung mit ein.

Literatur:

Alfred und Bettina Austermann: Das Drama im Mutterleib. Der verlorene Zwilling. Königsweg 2009

Evelyne Steinemann: Der verlorene Zwilling. Wie ein vorgeburtlicher Verlust unser Leben prägen kann. Kösel 2006

Barbara Schlochow: Gesucht: Mein verlorener Zwilling. Liebe und Tod am Beginn des Lebens. Editions à la carte Zürich 2007