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Rezension „Vom Mut zu wachsen“

Dr. Sylvester Walch, Psychotherapeut, Ausbildner, Buchautor (http://www.walchnet.de):

Der Autor hat sich mit seinem neuen Buch „Vom Mut zu wachsen“ einer großen Herausforderung gestellt: Das Schicksal des Menschen zu verstehen und zu erklären. Ist dieser faustische Anspruch nicht von Anfang an zum Scheitern verurteilt, möchte man sogleich nachfragen. Seit Kant wissen wir, dass wir unsere Erkenntnisbedingungen nie vollständig transzendieren können. Das Sein und Werden in seiner ganzen Tiefe durchdringen zu wollen, kommt dem Versuch gleich, mit der rechten Hand die rechte Hand zu ergreifen. Würden wir aber deshalb kosmologische Konzepte prinzipiell in Frage stellen, gingen uns wertvolle Einsichten und Anregungen verloren.

So auch das vorliegende Buch, das durch die achtsame Verschränkung von phylogenetischen und ontogenetischen Entwicklungssträngen ein wachstumsorientiertes ganzheitliches Menschenbild näherbringt.

Durch sein breites Wissen gelingt es dem Autor, historische, philosophische, biologische, gesellschaftliche und seelische Perspektiven zu einem umfassenden Stufenweg des menschlichen Bewusstseins nachvollziehbar zu verweben. Auch wenn das zugrunde gelegte Modell strukturell stark an die Arbeiten von Jean Gebser, Don Beck, Christopher Cowan oder Ken Wilber erinnert, hat es doch, abgesehen von einigen sinnvollen inhaltlichen Abweichungen, einen entscheidenden Vorteil: Es ist verständlicher, praxisnäher und offener. So konnte mich Wilfried Ehrmann leicht in sein ganz eigenes Bild vom Menschen hineinziehen. Erst bei distanzierterem „Nach-Denken“ kamen Bedenken über die allzu flüssigen, kaum Brüche aufweisenden, spekulativen Sichtweisen auf. Wäre nicht in Anbetracht der Fragestellung eine gewisse Inkonsistenz und Inkompetenz angemessener?

Wenn ich nun, wie in Rezensionen üblich, einige grobe Linien nachzeichne, so ist mir durchaus klar, dass dadurch weder der inhaltliche Umfang noch die Differenziertheit des Buches einen gebührenden Ausdruck finden.

Die Evolution des Bewusstseins vollziehe sich in 7 Hauptstufen, ausgehend vom Ursprung der Menschheit bis in die Jetztzeit und darüber hinaus. Interessanterweise finden wir die Zahl 7 in unterschiedlichen Entwicklungskonzepten, wenn wir nur an den Tantrismus und das System der Chakren denken.

Der Homo Sapiens beginnt seine Reise unbewusst, naturbezogen und in seine Gemeinschaft eingebettet („tribales Bewusstsein“). Seine individuelle Seite gewinnt in der zweiten Stufe des „emanzipatorischen Bewusstseins“ erstmals an Prägnanz. Hier wird sich der Mensch seiner persönlichen Kräfte bewusst und kann durch seinen Freiheitsdrang neue Potenziale erschließen. Um diese Dynamiken zu regulieren, werden Regeln und übergeordnete soziale Einheiten, also erste Staatsgebilde, notwendig („bürokratisch-hierarchisches Bewusstsein“). Durch den Eintritt ins „materialistische Bewusstsein“ werden alte Glaubensdogmen und Werte über Bord geworfen. Die aufkommenden Naturwissenschaften bedienen sich der Schöpfungsenergien und machen sich die Welt untertan. So erweitern bahnbrechende Erfindungen und grenzüberschreitender Handel die existenziellen Spielräume. Das freie Spiel der Kräfte führt aber auch zu Polarisierung, Entfremdung und Machtmissbrauch. Im „personalistischen Bewusstsein“ wendet der Mensch seinen Blick wieder nach innen, um seine Fixierungen am Materiellen zu lockern und sich seiner verengenden Muster bewusst zu werden. Wer aber glaubt, sein eigenes Glück über andere stellen zu können, muss im „systemischen Bewusstsein“ erkennen, dass alles relativ ist und dass wir nur dann wachsen können, wenn wir uns als Teil des Ganzen begreifen. Genau an dieser Schwelle gelangen wir ins „holistische Bewusstsein“, ein grenzenloses und zeitloses Miteinander, ein Tun und Lassen, zum Wohle der Schöpfung und im Vertrauen auf alles, was geschieht. Dem Vernehmen des Autors nach, befinden wir uns kollektiv an der Schnittstelle zwischen personalistischen und holistischen Bewusstsein. Es ist aber wichtig, dieses Stufenmodell nicht nur gesellschaftlich-kulturell zu verstehen, sondern auch als persönliche Wachstumsmöglichkeit zu nützen. So müssen wir als Einzelwesen stets alle Stufen durchlaufen und bewusst integrieren, um unsere individuelle Entwicklung, durch gute Fundamente getragen, nachhaltig zu fördern. Dabei werden mit jeder Stufe Hemmungen und Potenziale aktualisiert, Ängste kompensiert und Entwicklungsaufgaben gestellt.

Deshalb lohne es sich, herauszufinden, von welchen Kräften wir in welcher Situation dominiert werden. Zu diesem Zweck gibt uns der Autor eine Menge hilfreicher Übungen an die Hand. Sie führen uns durch die persönlichen Widerstände hindurch und eröffnen uns neue Horizonte, wenn wir uns darauf einlassen.

Das Buch „Vom Mut zum Wachsen“ ist also nicht nur ein globaler Entwurf „einer Geschichte vom Menschen“, sondern auch ein persönlicher Entwicklungshelfer und praktischer Ratgeber.

Dieser weitgespannte Bogen wurde inhaltlich hervorragend umgesetzt und führt fast unbemerkt in die Tiefe des eigenen Bewusstseins. Es regt an, nimmt mit und lässt nicht los. Danke!