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Kohärente Atemübungen

Atemkohärenz und Psychotherapie

Das Ziel der psychotherapeutischen Behandlung ist das Bewusstmachen und Auflösen von inneren Konflikten, unbewussten Antrieben und anderen Mechanismen des Seelenlebens. „Wo Es war, soll Ich werden“, wie die berühmte Formel von Sigmund Freud lautet.

Wie in der Medizin ist es in der Psychotherapie gleich wichtig, den Blick auf die Symptome und deren Geschichte sowie auf den inneren Gesamtzustand zu lenken. Psychische Belastungen wirken auf das Nervensystem zurück, und das belastete Nervensystem wirkt auf das seelische Befinden. Wenn wir auf der Seelenebene leiden, kommt das Nervensystem aus dem Gleichgewicht. Wollen wir Besserung und Heilung erreichen, müssen wir es wieder ins Gleichgewicht bringen. Deshalb kann eine Psychotherapie ohne Berücksichtigung der Regulation des autonomen Nervensystems und ohne Einflussnahme darauf nicht effektiv sein. Psychotherapie muss immer auf der körperlichen und der seelischen Ebene arbeiten. Wahrscheinlich ist es gar nicht möglich, beides zu trennen oder voneinander unabhängig zu sehen, denn Körperliches wirkt sich seelisch und Seelisches körperlich aus. Jedenfalls ist es wichtig, diese Verflochtenheit in jeder Therapie zur Kenntnis zu nehmen und die psychotherapeutischen Behandlungsmethoden und –interventionen darauf abzustellen.

Psychische Probleme und Stress

Im Hintergrund praktisch jeder psychischer Störung finden wir eine unangemessene Stressbelastung: Depressionen, Panikattacken, Posttraumatische Belastungsstörungen, Zwangsneurosen, Bindungsstörungen… Situationen in unserem Leben, mit denen wir nicht fertig werden konnten, weil sie zu heftig für uns waren, haben unseren inneren Stresspegel erhöht, bis er sich auf einem zu hohen Niveau eingependelt hat und sich zu einer chronischen Haltung verfestigt. Den Zusammenhang von Stressbelastung und psychischen Problemen haben mittlerweile so viele Forschungen belegt, dass wir von einem gesicherten Befund ausgehen können.

Psychotherapie: Begleitung und Eigenarbeit

In der Psychotherapie wird an spezifischen Themen gearbeitet, die einen Menschen belasten: Beziehungsthemen, innere seelische Belastungen, spezifische oder unspezifische Ängste usw. In vielen therapeutischen Ansätzen, z.B. in der Tiefenpsychologie wird versucht, die Wurzeln dieser Probleme in frühen Lebensphasen zu finden, um dort die Quelle der Belastung gefühlsmäßig durchleben und damit auflösen zu können. In anderen Therapieverfahren, z.B. in der Verhaltenstherapie, werden Strategien gesucht, die eine andere Form des Umgangs mit dem Problem in der aktuellen Lebenssituation ermöglichen können.

Die Arbeit findet in Gruppen oder im Zweiersetting statt. Eine wertvolle und im Grund unverzichtbare Ergänzung dieser therapeutischen Arbeit ist das, was die Klienten selber machen können, um die Therapie effizienter zu machen. Dabei lernen sie auch, ein Stück weit sich selber helfen zu können. Dazu ist das kohärente Atmen als tägliche Übungsform und als fortlaufendes Achtsamkeitstraining ausgezeichnet geeignet.

Klienten, die lernen, ihre Atmung zu entspannen und mit einem ruhigen und gleichmäßigen Rhythmus die Atem-Herz-Kohärenz aufzubauen und zu stabilisieren, senken ihren eigenen Grundstress und gewinnen dadurch allein schon mehr Lebensqualität. Sie können in der Therapie schneller und einfacher an die Wurzeln ihrer Themen kommen oder leichter Alternativen für das Handeln finden und umsetzen. Sie kooperieren gut mit ihren Therapeuten, weil sie Beziehungsängste abgebaut haben. Sie erkennen auch, dass sie aktiv an ihrer Heilung mitarbeiten können, im Alltag wie in der Therapie. Und sie entwickeln eine verlässliche Kompetenz im Sich-Spüren, Sich-im-Moment-Wahrnehmen, die jeder therapeutischen Arbeit zugutekommt.

Es gehört auch zur Verantwortung der Therapeuten, die Klienten auf den Aspekt der Eigentherapie hinzuweisen und Methoden vorzuschlagen und anzubieten, die dafür hilfreich sind. Damit wird die Autonomie der Klienten gestärkt und die Abhängigkeit von der Person des Therapeuten relativiert.

Neues Gesundheitsparadigma

Auch für die Psychotherapie hat das Gesundheitsparadigma, das ich vorschlage #, eine wichtige Bedeutung. Therapie ist nicht allein Sache der Therapeuten, die als Experten einen Heilungsprozess  anleiten. Therapie ist vielmehr ein Produkt der Zusammenarbeit zwischen Therapeuten und Klienten.

Die Klienten werden in der Therapie zu Mitgestaltern, wenn sie lernen, ihr eigenes Innenleben besser wahrzunehmen und zu regulieren. Bewusstwerdung ist zunächst Bewusstwerdung im und mit dem Körper. Die Brücke dazu stellt die Atmung zur Verfügung: Atmend wird uns bewusst, wie wir uns fühlen. Im Atem spiegelt sich der innere Zustand. Außerdem können wir über die Beeinflussung der Atmung auch den inneren Zustand regeln. Was im Inneren unausgeglichen ist, kann seinen inneren Ausgleich finden.

Seelische Störungen sind oft von einem Zuviel oder Zuwenig gekennzeichnet. Der Depressive klagt über zu wenig Antrieb, die Manikerin leidet über zu viel Aktivierung. Dennoch liegt diesen beiden und vielen anderen Krankheitsbildern ein ähnliches Ungleichgewicht im vegetativen Nervensystem zugrunde: Der Sympathikus dominiert, der Parasympathikus ist geschwächt. Dieses Ungleichgewicht führt im einen Fall dazu, dass die latente Angst des Depressiven die Motivation zum Tun unterbindet, und drängt im anderen Fall die Manikerin zu dauernder Umtriebigkeit.

Folglich streben die verschiedenen Methoden der Psychotherapie nach nichts anderem als nach dem Wiederherstellen eines gesunden Gleichgewichts zwischen Sympathikus und Parasympathikus. Dafür muss in den meisten Fällen einerseits die Überaktivierung des Sympathikus reduziert und andererseits der Parasympathikus gestärkt werden.

Mit dem Üben der kohärenten Atmung können diese beiden Ansätze zusammenwirken. Die beruhigte Atmung lässt den Sympathikus zurücktreten und stärkt den Parasympathikus. Durch die entspannte Körperhaltung braucht der Sympathikus beim Einatmen nur wenig in Erscheinung zu treten, während der Parasympathikus durch diese Körperposition beim Ausatmen eine stärkere Rolle spielen kann. Durch die Übung gewöhnt sich der Organismus mehr und mehr an die Umkehr des bisher üblichen Verhältnisses von Sympathikus und Parasympathikus.

Was immer der Klient macht, welche Methode auch immer angewendet wird, um das Nervensystem innerlich auszugleichen: Der Fortgang in der Therapie wird gefördert. Umgekehrt gilt, dass sich Menschen mit schweren Beeinträchtigungen erst mit einem gut regulierten vegetativen Nervensystem für gesprächsorientierte Therapieformen öffnen können. Solche Klienten müssen also zuerst auf einer tiefen, durch die verbale Sprache nicht erreichbaren Ebene, gewissermaßen in ihren Eingeweiden, zur Ruhe kommen und die Fähigkeit entwickeln, zu dieser Entspannung immer wieder zurückzufinden. Oft ist es so, dass wir überhaupt erst dann mit therapeutischen Gesprächen heilsame Veränderungen erzielen können, wenn sich die Strategien der Stressbewältigung auf der vegetativen Ebene aufgebaut und gefestigt haben. Denn dort liegen auch die Grundlagen des Vertrauens, von dem jede therapeutische Arbeit abhängig ist.

Zusammenspiel von Therapie und Atemübungen

Immer wenn Klienten dazu bereit sind, wirkt das Zusammenspiel von Therapie und Atemübungen optimal. Die täglichen Übungen helfen, die Fehlsteuerungen im autonomen Nervensystem zurück zu regulieren, während die Therapie an den grundlegenden Weichenstellungen arbeitet, die ursprünglich zur Fehleinstellung geführt haben. So werden die Fortschritte in der therapeutischen Arbeit deutlicher in Form von Veränderungen im Alltag wahrgenommen. Zugleich entwickelt die Klientin ihre eigene Kompetenz, Störungen und Dysregulation leichter wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Mit der Stärkung der Innenschau, des inneren Sinns, haben sie ein diagnostisches Werkzeug an der Hand, das ihnen über ihren jeweiligen Aktivierungszustand gute Erkenntnisse liefern kann und ihnen deutlich macht, wann sie etwas ändern sollten: an ihren Gedanken oder an ihrem Tun. Und sie haben ein wirksames Werkzeug immer bei sich, mit dem sie ihren Zustand selber beeinflussen und regulieren können. Jedes Üben enthält noch den Zusatznutzen, die Aufmerksamkeit von außen nach innen zu lenken und damit den inneren Sinn zu stärken und zu schärfen.

Kohärentes Atmen während der Therapie

Die Achtsamkeit auf das Atmen ist ein zentraler Teil meiner therapeutischen Arbeit, ob ich jetzt primär auf der Gesprächsebene arbeite oder Körper und Atmung explizit mit hereinnehme. Es erweist sich immer wieder als förderlich, Klienten auf ihre Atmung aufmerksam zu machen, wenn es darum geht, ein Thema mit Hilfe des inneren Spürens zu erforschen. Die Aufgabe der Psychotherapie wird manchmal so formuliert, dass abgespaltene Seelenteile integriert, also bewusst gemacht werden. Solche Themen können nur im eigenen Inneren gefunden werden, weniger über das Denken, mehr über das Spüren im Körper, und das gilt besonders für frühe, vor der Entwicklung der Sprache entstandene Themen.

Der innere Kanal öffnet sich erst, wenn wir einen gewissen Grad an Entspannung haben. Anspannung ist durch die Fixierung der Aufmerksamkeit auf das Äußere gekennzeichnet – wir sind in einer Haltung von Kampf- oder Fluchtbereitschaft, ob uns das bewusst ist oder nicht. Jedenfalls richten wir unsere Sinne auf mögliche Bedrohungen. Unser Inneres nehmen wir dabei kaum wahr. Es soll uns nur die notwendigen Energien zur Verfügung stellen, damit wir uns effektiv zur Wehr setzen oder rechtzeitig verdrücken können.

In der Therapie wird deshalb die Fähigkeit, ein Stück „herunterzukommen“, benötigt, also das Nervensystem aus der Dominanz des Sympathikus herauszuführen. Ohne die Mitwirkung des Smart-Vagus-Systems kann keine sinnvolle therapeutische Arbeit stattfinden. Viele Therapeuten beginnen ihre Sitzungen damit, den Klienten Zeit zu geben, zu sich zu kommen und sich selber zu spüren, oft, indem sie anregen, die Aufmerksamkeit auf den eigenen Atem zu lenken.

Das Setting und die Person des Therapeuten sollten dazu beitragen, dass die Klientin Vertrauen schöpfen kann. Sonst wird es nicht möglich sein, den therapeutischen Kontakt aufzubauen, die Atmosphäre, in der sich die Klientin öffnen kann. Zusätzlich hilft das Entspannen des Atems, in diese Atmosphäre zurückzufinden, wenn er in einer Phase der Arbeit verloren gegangen ist. Insbesondere, wenn die Klientin Erfahrungen mit dem bewussten Atmen mit dem eigenen Üben gesammelt hat, kann dieses Instrument schnell und einfach an jedem Ort des therapeutischen Prozess, an dem der Innenkontakt verlorengeht, hilfreich eingesetzt werden.

Zu meinem Buch über das kohärente Atmen.