Entwicklungstraumatisierung und Atemtherapie
Entwicklungstraumen und Atemtherapie
Das herkömmliche Verständnis von Trauma bezieht sich auf ein einmaliges Schockereignis, das für die betreffende Person so furchtbar war, dass es zu nachhaltigen Störungen des inneren Gleichgewichts kommt – ein Verkehrsunfall, ein plötzlicher Todesfall in der Familie, ein gewaltsamer Überfall usw. Solche Ereignisse werden als Monotraumen bezeichnet und mit der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) in Zusammenhang gebracht. In diesen Fällen ist es wichtig, in der Therapie den inneren gespeicherten Schockzustand aufzulösen und die Kampf-Flucht-Reaktion, die im Trauma unterbrochen wird, zum Abschluss zu bringen.
Wenn sich solche Traumatisierungen wiederholen, wenn z.B. missbräuchliche Übergriffe immer wieder passiert sind, sprechen wir von sequentiellen Traumatisierungen. Die Therapie muss in diesen Fällen das Augenmerk zuerst auf den Aufbau einer tragfähigen und stabilen Beziehung achten, verbunden mit der inneren Stärkung des Klienten und dem Aufbau eines verlässlichen Zugangs zu den eigenen Ressourcen, bevor die Arbeit auf die eigentliche Traumatisierung zielt, um die darin festgehaltenen Gefühle freizusetzen.
Der relativ neue Begriff des Entwicklungstraumas bezieht sich auf fortlaufende Erfahrungen von Vernachlässigung und Bedürfnisfrustration. Er steht in enger Verbindung mit den umfangreich erforschten Bindungsstörungen. Unsichere Bindungen verursachen chronifizierte Fehlsteuerungen im autonomen Nervensystem und beeinträchtigen die Gehirnentwicklung, das Hormonsystem und das Gedächtnis. Die verschiedenen Formen der unsicheren Bindung (vermeidend, ambivalent, desorganisiert) entstehen in einer Atmosphäre der fortgesetzten und andauernden Fehlkommunikation zwischen den Erziehungspersonen und dem Kind. Das ist genau die Atmosphäre, in der sich Entwicklungstraumen ausbilden.
Es kommt dabei nicht notwendigerweise zu einzelnen signifikanten Traumaerfahrungen, sondern es geschehen andauernde oder häufig auftretende Verunsicherungen, Bedrohungen und Verwirrungen. Viele Studien haben belegt, dass Traumatisierungen durch Beziehungen wesentlich schädlichere Auswirkungen haben als wenn die Traumatisierung aus nichtmenschlichen Quellen (z.B. durch Naturkatastrophen) stammt. Es scheint, dass wir Menschen so stark als soziale Wesen konzipiert sind, dass unsere gesunde Entwicklung nicht nur in seelischer, sondern auch in körperlicher Hinsicht in ganz wesentlichem Ausmaß von einer liebevollen und stabilen sozialen Umgebung abhängt, vor allem in den frühen und sensiblen Phasen des Aufwachsen. Entwicklungstraumatisierungen können physiologische, emotionale, soziale und kognitive Behinderungen hervorrufen.
Denn das Ungeborene und das Baby ist für seine Entwicklung und sein Überleben ganz angewiesen auf die Erwachsenen und hat nichts als seine Liebe zu geben im Austausch für das, was es bekommt. Ist diese Sicherung des Überlebens gefährdet, bricht Panik aus – und unter den zur Verfügung stehenden Reaktionsmöglichkeiten: Ab-wehrorientierung, Hypervigilanz (stark erhöhte Wachsamkeit), Kampf/Flucht/Erstar-rungsreaktion oder Erforschungsorientierung bleibt schließlich nur die Verkrampfung und Erstarrung und der innere Rückzug.
Die als letzte Möglichkeit zur Verfügung stehende Abwehrreaktion besteht in der Schreckstarre. Sie ist die einzige Reaktionsmöglichkeit, wenn die Traumatisierung sehr früh, z.B. schon im Mutterleib, begonnen hat. In diesem Zustand kommt es dann leicht zu Dissoziationen, Abspaltungen und zum Verlust der Körperwahrnehmung. Gefühllosigkeit und Antriebslosigkeit bis hin zu Lähmungen können ihre Ursache in solchen frühen Belastungen haben. Wenn sich diese innere Stresshaltung chronifiziert, kann sie sich in leichteren Symptomen wie einem starren Blick, Konzentrationsstörungen, Nicht-Zuhören-Können oder in unterschiedlichen gesundheitlichen Problemen äußern. Banale Anlässe können die Schreckreaktion auslösen: Der Atem wird angehalten, alles wird ruhiggestellt, alle irrelevanten Handlungen hören auf. Die gesamte Aufmerksamkeit geht in die äußeren Sinne, insbesondere aufs Hören und Sehen. Solche Symptome können das ganze Leben anhalten und sich in Stresssituationen verstärken. Die betreffenden Menschen erkennen gar nicht, dass sie diese Reaktionsmuster irgendwann als Schutz angenommen haben, sondern nehmen an, dass sie einfach so sind.
Eine weitere Folge dieser Traumatisierungen liegt darin, dass die Entwicklung des Social Engagement Systems bzw. des Smart Vagus nach der Polyvagaltheorie verzögert, verlangsamt oder sogar verhindert wird. Menschen mit solchen Erfahrungen neigen schon bei leichtem Stress in sozialen Beziehungen zu intensiven Gefühlsreaktionen und impulsiven Handlungen, die eine verständnisvolle Klärung der Situation unmöglich machen. Sobald die Stressbelastung einen weiteren Grad überschreitet, gibt es nur mehr den Ausweg in die Blockierung. Sozial verbindende und verträgliche Reaktionsformen sind dann kaum mehr zugänglich. Die innere Regulierung der Emotionen gelingt nicht, sie überschwemmen das Bewusstsein und nehmen keine Rücksicht auf die jeweilige Situation und auf das Gegenüber.
Ein Nervensystem, das sich vorwiegend im Sympathikus und Parasympathikus aufhält, ohne die neueren und intelligenteren Vagussysteme zu nutzen, gerät in Dysregulation und Überforderung. Die verschiedensten Gesundheitsprobleme können daraus folgen. Das sympathische System kennt an sich schon keine Erholung, und das parasympathische System kann sich dann nur in der Erschöpfung entspannen.
Schätzungen aus den USA besagen, dass pro Jahr drei Millionen Neugeborene von einer Entwicklungstraumatisierung betroffen sind, das sind 70% (!) aller Neugeborenen, und damit zählt diese Störung zu den wichtigsten Gesundheitsthemen der heutigen Welt. In den gängigen Diagnoseklassifikationen (DSM IV, ICD-10) gibt es diese Kategorie noch nicht. Deshalb werden die aus solchen Erfahrungen stammenden Symptome häufig falsch diagnostiziert, z.B. als ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung) oder als bipolare (manisch-depressive) Erkrankung. Die Standardbehandlung erfolgt dann über Medikamente, statt dass die Entwicklungsdefizite therapeutisch aufgearbeitet werden.
Atemarbeit und Entwicklungstraumatisierung
Viele Elemente für eine erfolgreiche Behandlung von Entwicklungstraumatisierungen sind Teil des Grundrepertoires in der Atemtherapie, wenn sie auf der Grundlage von weitreichender und sorgfältiger Ausbildung angewendet wird. Wenn neue Ansätze und Methoden mit einem neuen Diagnosemodell „auf den Markt kommen“, finde ich häufig vieles von dem wieder, was in der Atemtherapie schon lange zum Standard gehört. Ich finde es faszinierend, was die Atemarbeit an Heilrepertoire beinhaltet, und wie wenig ihr davon in ihrem eigenen Rahmen und darüber hinaus selbst-bewusst ist.
Vegetative Regulierung
Entwicklungstraumatisierungen haben nachhaltige Fehlregulationen im gesamten Bereich des vegetativen Nervensystems zur Folge. Dies kann sich einerseits in Überaktivität (chronische Anspannung und Nervosität) oder andererseits in Antriebsmangel (Passivität, Depressivität) und manchmal im Wechsel zwischen diesen beiden Polen ausdrücken. Es mangelt an der Fähigkeit, auf Herausforderungen der Umwelt gelassen zu reagieren.
Über die Entspannung der Ausatmung und die Kräftigung der Einatmung können verbesserte vegetative Regulierungen aufgebaut und antrainiert werden. Die Atem-„Erziehung“ bzw. die Wiederherstellung der ursprünglichen Atemfunktion auf der Ebene des vegetativen Nervensystems besteht darin, dass sich vor dem Hintergrund eines rhythmischen und regelmäßigen Wechsels zwischen einer leichten Aktivierung von Sympathikus und Parasympathikus der Smart Vagus entfalten kann.
Ein wohl reguliertes Nervensystem ist an diesem entspannten und tiefen Fließen des Atems erkennbar. Damit sind auch die Fähigkeiten zur sozialen Verbundenheit und die Offenheit für das innere Spüren zugänglich. Außerdem wird auf der organischen Ebene das Selbstvertrauen gestärkt.
De-Dissoziation
Mit dem bewussten Atmen öffnen wir den Weg zur Innenwahrnehmung, zur Stärkung des inneren Sinns und zur Körperwahrnehmung. Wir leiten dazu an, während des gesamten Atemprozesses immer wieder den Körper zu spüren, Gefühle und Empfindungen wahrzunehmen. Die Augen bleiben meist geschlossen, womit die Aufmerksamkeit am leichtesten im inneren Universum bleibt.
Ein zentraler Vorgang bei Traumatisierungen besteht in der Dissoziation, die in der Abspaltung der Aufmerksamkeit von der Körpererfahrung besteht. Das Bewusstsein wandert an einen sicheren Ort aus, sodass die bedrohliche Situation, die der Körper durchleben muss, ausgehalten werden kann. Bei fortgesetzter Traumatisierung kann damit das Spürenkönnen des Körpers und seiner Signale völlig verlorengehen.
Der naheliegendste und einfachste Weg, das Bewusstsein wieder mit dem Körper zu verbinden, liegt darin, die Aufmerksamkeit dem Atem zu widmen und damit bewusst in einen permanent ablaufenden organischen Prozess einzutauchen, der vielfältige Informationen aus dem Inneren auftauchen lässt. Es geht dabei primär darum, das Vertrauen in diesen Informationskanal wieder herzustellen und damit zur Aufhebung von traumabedingten Dissoziationen, also zur Abspaltungen von der Körpererfahrung beizutragen. Damit verringert sich die Neigung, auch in Alltagssituationen „auszusteigen“, und die Bewusstheit für die Erfordernisse der jeweiligen Situation wird gestärkt. Den Atem bewusst zu spüren und sich damit mit dem Körper zu verbinden, ist eine Übung, die überall und jederzeit gemacht werden kann.
Allerdings kann es während des Atemprozesses zum Wiedererleben von Dissoziationen kommen, wenn das Bewusstsein beim Atmen wegdriftet und die Aufmerksamkeit trotz willentlicher Anstrengung nicht beim Atem bleiben kann. Ein solcher Zustand des Unbewusst-Werdens kann verschiedene Hintergründe haben, wichtig ist es, abzuklären, ob es sich um Müdigkeit oder Erschöpfung handelt und der Körper auf die Ruhelage mit einem Schlafbedürfnis reagiert oder ob es ein unbewusst gesteuertes Ausweichen in den Parasympathikus-Zustand ist, das eine Traumafolge sein kann. Insbesondere, wenn dieses Wegdriften immer dann auftritt, wenn der Atemprozess zu einer tieferen Erfahrungsebene führt, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um eine Abwehrreaktion handelt, die eine erlebte Traumatisierung schützen will.
Bottom-Up und Top-Down
Wir arbeiten „bottom-up“, wenn wir auf die Wurzel der Störung zielen und dort die Heilung wirken lassen, bis sie „nach oben“ spürbar und erfahrbar wird. In der Arbeit mit dem Atem reichen wir tief in den präverbalen Bereich hinein. Sobald wir uns konzentriert und vertieft auf den Atem einlassen, tauchen wir in Erfahrungsebenen ein, die jenseits oder lange vor der kognitiven Verarbeitung in uns entstanden sind und ihre Spuren weit unterhalb der Sprache hinterlassen haben.
Die Arbeit „von oben nach unten“ ist in der Atemarbeit schwächer repräsentiert. Häufig heißt es: Lass den Atem wirken, das genügt, Reden währenddessen oder nachher darüber ist unnütz. Dennoch, das Aufsteigen von intensiven Gefühlen muss mit der Fähigkeit, diese zu integrieren, ausbalanciert werden. Wir sollten diesen Aspekt nicht vernachlässigen. Das Top-Down-Arbeiten bedeutet, dass wir einen Verständnisrahmen herstellen für das, was abläuft oder abgelaufen ist. Wenn die Klientin verstehen kann, was sie in ihrem Inneren gespürt und empfunden hat, kann sie sich auch kognitiv beruhigen. Wichtig ist es auch, Heilungen, die an der Basis, auf der Körperebene erfolgt sind, durch das Erkennen und Verändern der kognitiven Muster zu stabilisieren, die sonst die Heilung behindern würden.
Die Container füllen
Entwicklungstraumatisierungen führen dazu, dass sich der Organismus der betroffenen Personen andauernd im Alarmzustand befindet und damit auf einem Notprogramm läuft. Es fehlen die Erholungszeiten und –räume, in denen Schäden repariert und Reserven aufgebaut werden können. Häufig bietet nicht einmal mehr der Schlaf diese Regenerationsfunktion, weil er unruhig und gestört ist. Als Folge kommt es zu leichter Reizbarkeit, Überempfindlichkeit und fehlende Stressresistenz. Kleine Ursachen können dann starke emotionale Reaktionen und Stimmungsschwankungen auslösen.
Atemsitzungen sollten idealerweise in einen tiefen Entspannungszustand führen, entweder nach intensiveren gefühlsgeladenen Prozessen oder nach einem ruhigen Ablauf. Häufig berichten Klienten nach ihrer ersten derartigen Erfahrung, dass sie sich noch nie so entspannt gefühlt haben. In diesem Zustand werden die entleerten Energiespeicher aufgefüllt.
Sich mit Hilfe der Achtsamkeit auf dem Atem auch im Alltag besser entspannen zu können, ist ein angenehmer Nebeneffekt der Atemtherapie, ebenso wie die Nutzung des bewussten Atems für die Bewältigung von Schlafstörungen. Damit kann die Energiebilanz nachhaltig aufgebessert werden, weil der Körper das notwendige Maß an regenerativen Erholungsphasen bekommt. Die ausgeplünderten Energiespeicher werden wieder gefüllt. Die Atemklientin erlernt dazu noch einen Weg, wie sie Energiebilanz im Alltag immer wieder verbessern kann, indem sie auf ihren Atem achtet und ihm die erforderliche Entspannung gönnt.
Verankern in der Gegenwart
Bei Traumatisierungen handelt es sich um Erfahrungen in der Vergangenheit, die ihre Wirkungen bis in die Gegenwart haben. In der Gegenwart wissen wir, dass wir das Trauma überlebt haben und, wenn diese Erfahrung in der Kindheit war, dass wir jetzt stärker und belastbarer sind als damals. Deshalb ist es wichtig, wenn Elemente der Traumaerfahrung auftauchen, zugleich das Bewusstsein in der Gegenwart zu halten, damit die Erfahrung in einem sicheren Rahmen noch einmal durchlebt werden kann.
Der Atem ist ein ausgezeichneter Weg, immer wieder in den Moment zurückkommen. Indem wir als Begleiter darauf aufmerksam machen, wie der Atem in jedem Moment ein- und ausströmt, schlagen wir diese Brücke und helfen dem Klienten, die schlimme Erfahrung mit der Sicherheit in der Gegenwart zu verbinden und damit eine Neuprägung im emotionalen Gehirn aufzubauen.
Mit dem bewussten Atmen lassen sich gut Erdungsübungen verbinden, die einen wichtigen Beitrag bei der Verankerung in der Gegenwart leisten. Der energetische Kontakt zum Boden stärkt auch die innere Sicherheit, das Gefühl, von der großen Mutter Erde getragen zu werden.
Kathartisches Arbeiten
Entwicklungstraumatisierungen zeigen sich in komplexen Mustern, die auf unabgeschlossene Kampf-Flucht-Reaktionen zurückgehen. Wenn ein Säugling oder Kleinkind in seinen Bedürfnissen frustriert wird, zeigt es zunächst Irritation, dann Ärger, dann Aggression, und, wenn dann noch immer keine adäquate Antwort von außen kommt, Resignation, Rückzug und Blockierung. In diesen Fällen kann das Aktivierungspotenzial des Sympathikus in seiner natürlichen Form nicht zum Abschluss und Ausgleich kommen. Es bleibt auf halber Strecke stecken und mündet, bevor die aggressiven Energien abgeführt und abgebaut werden können, in eine massive Blockade, die dann in ein Verbot umgemünzt wird: Ich darf nicht wütend sein, weil ich sonst die Liebe der Menschen verliere, die mein Überleben sichern.
Wenn wir die Atmung verstärken und vertiefen, kommen häufig Körperimpulse an die Oberfläche, die zum Ausdruck drängen, weil damit die unabgeschlossenen Aggressionszyklen zum Abschluss gelangen können. Deshalb ist es hilfreich, diesen Impulsen zu vertrauen und sie zur Wirkung zu bringen, sodass die gestaute Energie körperlich freigesetzt werden kann. Dies kann mit Schreien, Treten, Stoßen usw. verbunden sein und muss in einer ganz sicheren Umgebung stattfinden, die auch die Therapeutin mit einschließt. Denn sie braucht ein tief gegründetes Vertrauen in die Kraft der Gefühle, damit sie der Klientin im Gefühlsprozess einen sicheren Halt geben kann. Sie muss wie eine Bezugsperson agieren, die dem ohnmächtig wütenden Kind einen festen Halt gibt und die Botschaft vermittelt: Ja, du darfst jetzt wütend sein und darfst dein ganzes Gefühl mit seiner ganzen Kraft ausdrücken, und ich liebe dich ganz mit diesem Gefühl.
Allerdings ist auch hier die Vorsicht angebracht, wenn vor allem bei starker Traumatisierung zu schnell oder zu heftig an heiklen Punkten durch die Forcierung der Atmung gearbeitet wird, sodass Dämme bersten, statt dass die Schutzmäntel um die verletzendsten Erfahrungen behutsam und Schritt für Schritt abgetragen werden. Rechtzeitig dafür zu sorgen, dass sich die Atmung nicht verstärkt, sondern eher verlangsamt, wenn die Wurzel einer Problematik erreicht wird, gehört zur Kunst des Begleitens einer Atemsitzung.
Heilsamer und invasiver Körperkontakt
Eine Form der traumatisierenden Vernachlässigung liegt im Mangel an Körperkontakt, den die Eltern ihrem Baby und Kleinkind schuldig geblieben sind. Neugeborene spüren Kontakt und Liebe vor allem über den Körper. Sie nehmen über diesen Kanal wahr, wie ihre Beziehung zu den wichtigsten Kontaktpersonen ist. Wenn dieser Kanal nicht genutzt wird, fehlt ihnen diese lebenswichtige Information, und sie wissen nicht, ob sie gewollt sind oder nicht, ob sie angenommen oder abgelehnt werden. Damit befinden sie sich in einem unsicheren Niemandsland, in dem es jederzeit gefährlich und bedrohlich werden kann. Deshalb entwickeln sie eine dauerangespannte Wachsamkeit und eine Sensibilität für die kleinsten Kontaktfunken, die dann häufig mit zunächst unbewussten Interpretationen aufgeladen werden, wie z.B. „Immer wenn ich lächle, wendet sich die Mutter zu.“
Die Atemtherapie ist eine Körpertherapie, und deshalb geht es in ihr auch viel um Berührung. Wie jetzt auch schon wissenschaftlich erforscht wurde, kann eine empathische Berührung Schmerzen lindern, Stress erleichtern und Glücks- und Bindungshormone freisetzen. Berührungen sind eine der wichtigsten Kommunikationswege für Mitgefühl und Akzeptanz.
Bei der Arbeit mit entwicklungstraumatisierten Klienten mit einem Berührungsmangel ist es wichtig, die enorme Wichtigkeit und Wertigkeit des Körperkontaktes und zugleich die damit verbundene enorme Unsicherheit, die viele Klienten mitbringen, zu beachten. Kleine und kleinste Berührungen können große Auswirkungen haben, die genau wahrgenommen und kommunikativ aufgearbeitet werden sollten. Es sollte also immer wieder abgeklärt werden, wie der Körperkontakt wirkt und ankommt, damit auch hier keine Überflutung mit verunsichernden Reizen stattfindet, selbst wenn sie gut gemeint ist[1].
Achtsamkeitstraining
Die Achtsamkeitstherapie (mindfulness therapy) gewinnt zunehmend an öffentlicher Achtung und Wertschätzung als Hilfe bei verschiedenen Störungsbildern, vor allem bei Stressbelastung und damit verbundenen Erkrankungen. Sie beruft sich auf die buddhistische Meditationspraxis, die, natürlich, die Achtsamkeit auf den Atem als eine ihrer Schlüsselmethoden praktiziert. So heißt es in einer Anweisung: Wenn wir Fähigkeiten der Achtsamkeit erlernen, wird üblicherweise empfohlen, dass wir mit der Achtsamkeit auf den Atem beginnen, dann die Achtsamkeit auf den Körper, bevor wir uns der Achtsamkeit auf die Gedanken zuwenden (http://www.getselfhelp.co.uk/stream.htm, 8.1.2013).
Wenn wir mit dem bewussten Atem arbeiten, betreiben wir Achtsamkeitstherapie. Wir bleiben mit unserer Bewusstheit beim Atem und bei seinem Ein- und Ausströmen, gleich welche Empfindungen und Impulse im Inneren hochsteigen. Damit verbinden wir uns immer wieder mit dem momentanen Erleben und zollen den Gedanken weniger Augenmerk. Die Welt unserer mentalen Konstrukte rückt in den Hintergrund, und wir gewinnen damit ein wertvolles Werkzeug, um lockerer und gelassener mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen. Das stellt auch eine beachtliche Lebenshilfe und eine Steigerung der Lebensqualität für alle dar, die unter Entwicklungstraumatisierungen leiden.
Die therapeutische Beziehung
Wie oben erwähnt, entstehen Entwicklungstraumatisierungen vor allem, wenn nicht sogar ausschließlich, in einer Atmosphäre von Bindungsunsicherheit. Deshalb spielt die Beziehung zwischen der Atemtherapeutin und dem Klienten eine ganz wichtige Rolle bei der Heilung. Da ein Klient mit dieser Belastung ein unsicheres Bindungsmuster mitbringt, ist es wichtig, dass die Therapeutin das entsprechende Heilmittel in der Beziehung anbieten kann, die Form von Sicherheit, die dem Klienten in der Kindheit gefehlt hat. Sie sollte auch mit der Pendelbewegungen zwischen Öffnen und Verschließen, Vertrauen und Misstrauen umgehen können, die unsicher gebundene Klienten mitbringen. Sobald sie merken, dass sie angenommen sind, ob sie nun offen oder reserviert sind, können sie sich mehr im Kontakt entspannen und damit Schritt für Schritt ein neues inneres Beziehungsmodell aufbauen.
Weil, wie oben angesprochen, bei diesen Klienten „echte“ Beziehungserfahrungen ganz selten waren, haben sie hohe Ansprüche an die Kongruenz der Therapeutin. Sie merken sofort, wenn etwas nicht stimmt und reagieren sehr sensibel darauf, oft, ohne das mitzuteilen. Sagt z.B. die Therapeutin auf die Frage des Klienten, sie sei nicht müde (weil sie eine präsente und aufmerksame Begleiterin sein will), obwohl sie müde ist, wird das vom Klienten sofort registriert und erzeugt Misstrauen und Rückzug, manchmal auch so, dass der Klient das gar nicht bemerkt und deshalb auch nicht mitteilen kann.
***
Vieles von dem, was Klienten mit Entwicklungstraumatisierungen brauchen, um einen erfolgreichen Weg der Heilung beschreiten zu können, wird von der Atemtherapie abgedeckt. Und vieles kann diese Methode noch dazulernen, wenn wir einen immer genaueren Blick für die Hintergründe der Störungen, mit denen die Klienten zu uns kommen, gewinnen und in die Arbeit einfließen lassen. Wir können den Verdiensten des Atemweges vertrauen und zugleich an der Erweiterung ihrer Möglichkeiten mitarbeiten. Dazu ist es immer wieder wichtig, dass wir uns mit neuen Konzepten und Erkenntnissen aus der weiten Welt der Psyche auseinandersetzen.
Literatur:
Laurence Heller: Healing Developmental Trauma. How Early Trauma Affects Self-Regulation, Self-Image, and the Capacity for Relationship. Berkeley: North Atlantic Books 2012
Deutsch: Entwicklungstrauma heilen: Alte Überlebensstrategien lösen – Selbstregulierung und Beziehungsfähigkeit stärken – Das Neuroaffektive Beziehungsmodell zur Traumaheilung NARM. München: Kösel 2013
Bessel van der Kolk: Developmental trauma disorder: Towards a rational diagnosis for children with complex trauma histories. http://www.traumacenter.org/products/pdf_files/preprint_dev_trauma_disorder.pdf 10.12.2012
www.developmentaltrauma.com 7.1.2013
http://www.getselfhelp.co.uk/stream.htm, 8.1.2013